Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft

Nach den dokumentarischen Monologen von Swetlana Alexijewitsch

Die Tschernobyl-Katastrophe ereignete sich vor 30 Jahren. Noch heute sind die Folgen weltweit zu spüren. Das Erlebnis der Tschernobyl-Katastrophe ist, so die Autorin Swetlana Alexijewitsch, etwas, „wofür wir uns noch kein System von Vorstellungen, noch keine Analogien oder Erfahrungen haben, … wofür nicht mal unser ganzes inneres Instrumentarium ausreicht“. Das hat sich auch heute – 30 Jahre danach – noch nicht geändert.
Die Autorin hat über mehrere Jahre mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. So sind in ihrem preisgekrönten Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.“ eindringliche psychologische Porträts entstanden, literarisch bearbeitete Monologe, die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen mussten. Der weissrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch wurde 2015 der Literaturnobelpreis verliehen.


Theater Trier
Junges Theater, Göttingen

Premiere: 22.04.2016

Regie und Ausstattung: Peer Ripberger
Dramaturgie: Tobias Sosinka

Besetzung: Katharina Brehl, Agnes Giese, Jan Reinartz, Peter Christoph Scholz, Karsten Zinser

 

Kritiken:

„Was braucht`s auf der Bühne, wenn die Geschichte aus den Boxen kommt? Der Vater, der auf der mitgenommenen Tür seine Frau und seine Tochter zu Grabe trägt, braucht nicht mehr als einen Blick von Karsten Zinser. Die Verlobte, die ihren Freund, einen Kunstmaler, nicht mehr heiraten kann, weil er die Katastrophe, die Explosion, die erschossenen Tiere auf der Straße nur malen wollte – dazu genügt Katharina Brehl eine Zigarette. Die Soldaten, die am Ende des Tages keine Kugel mehr für den Pudel übrig haben und ihn lebendig im Mogilnik (einem „Massengrab“ für verstrahlten Müll) begraben müssen – all diese Geschichten sind auch auf der Bühne so eindrucksvoll, dass sie ohne gewaltige Materialschlacht auskommen. Nur ein paar Teddybären aus heimatlos gewordenen Kinderzimmern oder ein Bund Karotten aus radioaktiv verseuchten Gärten – dazu erinnernde Gesichter. Das funktioniert nicht immer, aber wenn, dann ist das große Schauspielkunst. Peer Ripbergers diskrete Regie lässt die Geschichten atmen. Er begegnet ihnen mit dem gleichen Respekt, mit dem Alexijewitsch ihren Interviewpartnern begegnet ist, ohne dem Text viel hinzuzufügen. (…) Dem Unfassbaren der Katastrophe versucht Ripberger mit Fragen zu begegnen, die frontal dem Publikum gestellt werden. Die Fragen für ein reines Gewissen wirken kindisch, trotzig. Ja, sie nerven sogar. Weil die Antworten unbequem sind. (…) Es sind kleine Gesten, mit denen Peer Ripberger den absurden Umgang der Menschen mit der Radioaktivität zeigt. Die Notenständer am Schluss: Ausdruck einer dunklen, traurigen Sinfonie.“

nachtkritik.de vom 22.04.2016

„Tschernobyl ist keine vergangene Katastrophe. Sie dauert an. Das zeigt das Theaterstück eindringlich. Unter der Regie von Peer Ripberger verdichten sich, berührende und verstörende Erzählungen zu einem Mosaik der Schicksale. Es ist kein einfaches Unterfangen, die Aufmerksamkeit des Publikums nicht zu verlieren, wenn nur Monologe gesprochen werden. Umso bemerkenswerter, dass es Ripbergers Inszenierung gelingt. Das Stück zeichnet den Stand der Dinge nach und fasst die Fragen der aktuellen Debatte zusammen. Es stellt die unangenehmen Fragen nicht, es ruft sie nur in Erinnerung. Kritisch, aber nicht belehrend, werden die Zuschauer ermutigt, sich und ihre Politiker zu hinterfragen.“

Göttinger Tageblatt vom 23.04.2016

„Zuallererst feiert der Abend die außerordentliche Qualität der Texte, die wundervoll zugespitzt und ausformuliert sind, ohne ihre Unmittelbarkeit, ihren dokumentarischen Charakter zu verlieren. Die Inszenierung setzt auf die pure Kraft der Sprache, szenisches Spiel gibt es nicht. – Ein leiser, internsiver Abend, der auf die Kraft der Sprache setzt. “

HNA vom 24.04.2016

„Regisseur Peer Ripberger hat eine mutige Entscheidung für seine Inszenierung getroffen und diese „Chronik der Zukunft“ nicht zu einem dramatischen Schauspiel gemacht, das mit visuellen und szenischen Effekten Anteilnahme erzeugt. Es kommt ja alles zur Sprache, ohne dass es eine szenische Überhöhung braucht oder gar dokumentarische Filmbilder, wie sie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima die Authentizität der Ereignisse sichtbar und spektakulär konservierten. (…) Ripberger und sein Schauspielteam legen immer wieder Protest ein gegen eine Historisierung der Katastrophe und dass sie der ehemaligen Sowjetunion als marodes System anzulasten sei. (…) Es ist ein unablässiges Nachbohren und Nachfragen an die Adresse des Publikums mit der Aufforderung Stellung zu beziehen, die manchmal etwas lehrhaft anmutet, aber eben auch mit den Tatsachen droht. Einer latent atomaren Bedrohung, die 30 Jahre nach Tschernobyl eher noch an Katastrophenpotential zugenommen hat.“

Kulturbüro Göttingen vom 23.04.2016